Hallo,
aus Ihrer Schilderung geht hervor, daß Sie sehr resigniert sind.
Das kann ich verstehen.
Ich hoffe, daß Sie sich selbst keine Vorwürfe machen, denn Sie haben außerordentlich mutig, entschlossen und verantwortungsbewußt gehandelt.
Das ist längst nicht selbstverständlich.
Meistens läuft das ganz anders.
In einigen Fällen half nur eine private Initiative – Furchteinflößende Verbündete von Betroffenen suchten die Täter zu “Motivationsgesprächen” auf.
Es wurde eine größenteils nonverbale “Wenn-dann”-Vereinbarung getroffen…
Natürlich ist das nicht legal. Aber wirksam.
Es zeigt : Wir haben Dich im Blick und handeln jederzeit.
“Pädophile”, auch wenn sie sadistisch veranlagt sind, handeln wie Süchtige. Es hilft nur Klarheit und Kontrolle und dem Täter die Verantwortung und Entscheidung zurückgeben.
Ich weiß nicht, wie es Ihrem Kind heute geht – aber zu erleben, daß die Mutter und die Therapeutinnen einem glauben und helfen ist schon viel wert.
Sie sind eine gute Mutter.
Das, was Sie schildern ist absolut typisch und ich glaube Ihnen jedes Wort.
In Bezug auf die Verbreitung von sexueller Übergriffigkeit und organisierter sexueller Gewalt zeugt es bestenfalls von Naivität, wenn von “Hysterie” gesprochen wird. Schlimmstenfalls – und das ist wahrscheinlich – handelt es sich um Sarkasmus – schlichte Abgebrühtheit.
Das Problem, wenn man Fälle von sexueller Misshandlung aufdeckt ist, daß viele einzelne Akteure bzw. Gruppen gegeneinander ausgespielt werden können.
Sie identifizieren sich nicht sofort, haben kein gemeinsames Kennzeichen.
Und daß mittelbar Betroffene (Angehörige, Mitwisser wie LehrerInnen oder SozialarbeiterInnen)Angst haben, komplett zum Sündenbock gemacht zu werden, im Sinne von “na die Mutter hätte doch…” oder “na was ist denn mit dem Jugendamt…”, sorgt auch nicht gerade für Solidarität und schüchtern viele potentielle Helfer ein.
Das mit der fehlenden gemeinsamen positiven Identität halte ich für ein großes Problem.
Mir fällt dazu etwas ein, was ich auf einer Fortbildung gehört habe.
Der Referent – Haim Omer, ein Familientherapeut und Friedensaktivist – arbeitete mit einer brasilianischen Schule, an der brutalste Gewalt Alltag war.
Alle hatten Angst, die Täter wurden aber gleichzeitig komplett diffamiert.
Sein Lösungsvorschlag : Die Taten werden fortan abgewertet und für unerwünscht erklärt, nicht mehr die Menschen.
Das heißt, die SchülerInnen und LehrerInnen haben zusammen einen Vertrag entworfen, in dem geregelt war, welches Verhalten fortan erwünscht und welches nicht erwünscht war.
Wer den Vertrag unterzeichnete, trug fortan ein bestimmtes T-Shirt und verpflichtete sich, bei gewalttätigen Handlungen einzuschreiten – z.B. indem er/sie einen Lehrer rief.
Mit der Zeit wurde die Gruppe der “T-Shirt-Träger” immer größer und das Problem kleiner.
An der “Rütli-Schule” ist man so ähnlich vorgegangen – mit großem Erfolg.
So etwas stelle ich mir auch für unsere Gesellschaft in Bezug auf sexuelle Misshandlung vor. Menschen bekennen sich öffentlich zum Recht auf selbstbestimmte Sexualität und erklären gleichzeitig, daß sie sexuelle Misshandlung und Übergriffe ablehnen und etwas dagegen tun wollen. Dann geht es gegen die Taten, nicht gegen Mitwisser oder die Opfer.
Jede Frau oder jeder Mann, die/der sich auf Partnersuche begibt, kann dann prüfen, ob es sich bei dem Auserwählten um einen Anhänger der “selbstbestimmten Sexualität” handelt oder nicht.
Das würde auch Betroffenen die Partnersuche erleichtern oder Menschen, die allein erziehend sind und Sorge haben, sich die “Pest” ins Haus zu holen.
Selbst, wenn einige “U-Boote” sich unter die “T-Shirt-Träger” mogeln sollten – in der Gruppe derer, die offen über Sexualität und ihre Grenzen sprechen, fallen sie eher negativ auf als in einem süffisant-provokant und ach so eloquenten Tagesspiegel-Interview.
Oder in der Robe bei Gericht.
Oder als Pressesprecher eines schicken Konzerns.
Oder als Hausmeister (s.o.)
Oder als der nette Mensch, der auf eine Kontaktanzeige geantwortet hat.
….
In der Vergangenheit war die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe oder zu einer Konfession entscheidend dafür, mit wem man zu tun haben wollte oder nicht. Das ist ein sehr rigides, absolutes System, das dem Einzelnen keine Wahl läßt.
Wenn man Verhalten und Einstellung des anderen Menschen zum Kriterium für öffentliche und private Beziehungen macht, dann ist das wesentlich fairer.
Jeder hat eine Wahl und jeder eine Chance.
Man könnte dann Politiker und Repräsentaten fragen, warum sie kein “T-Shirt-Träger” sind…. aber auch die nette Urlaubsbekanntschaft…oder den Arbeitskollegen…
Man erinnere sich an die Wirkung der “roten Schleife” als Antwort darauf, daß vor 20 Jahren bestimmte Gruppen, HIV-Infizierte und Homosexuelle ausgrenzen wollten.
Es gab einen vollkommenen Stimmungswechsel in der Bevölkerung. Und jetzt haben wir schwule Bürgermeister und Außenminister.
Es ist mittlerweile “schick” schwule Freunde zu haben…
Das, was wir hier im Forum tun, ist schon ein erster Schritt. Jeder persönliche Bericht oder Beitrag ist viel wert, weil er Wissen transportiert und Maßstäbe schafft.
Man muß in bestimmten Fällen auch keine Namen nennen – ein paar “Eckdaten” reichen. Wer wissen will, um wen es sich handelt, der findet dank der Suchmaschinen im Internet heraus, was er/sie wissen will.
Dann noch ein paar kleine “Nebensünden” erwähnen über die man offen sprechen darf – ohne die Gefahr einer Verleumdungsklage – und gezielte Andeutungen…
Dazu bedarf es ein wenig Kreativität und Übung – aber es klappt.
Das schafft genau den sozialen Druck, den Täter brauchen, um gestoppt zu werden.
Sie setzen auf die “Solidarität” und Ignoranz ihrer Umgebung. Letztendlich halten sie die anderen für dumm.
Arbeitgeber informieren sich mittlerweile gezielt im Internet über BewerberInnen…. Es sollten doch nur positive Sachen drin zu finden sein, oder ?!?
Das Internet ist einer unserer Verbündeten. Es ist im Grunde zutiefst demokratisch. Vor der Macht der Kommunikation auf Augenhöhe ist niemand geschützt. Weder durch Geld, noch durch Status.
Wir könnten uns z.B. jederzeit mit irischen, kanadischen oder afrikanischen Aktivisten austauschen.
Das ist das Prinzip, nach dem “amnesty international” arbeitet.
So wird die nötige allgemeine Kontrolle durch Information hergestellt, die z.B. an den Schulen und Einrichtungen, von denen hier die Rede ist, fehlte.
Ihnen und Ihrem Kind alles Gute,
Angelika Oetken, Berlin